50.000 Wörter in nicht mal dreißig Tagen? Ein Ziel, das für die meisten Leser schon an Wahnsinn grenzt, aber jedes Jahr im November setzen es sich mehrere hunderttausend junge Autoren.
Das Projekt des National Novel Writing Month (kurz NaNoWriMo) zieht auch mich seit dem 1. Oktober 2013 immer wieder neu in seinen Bann.
Seinen eigenen Roman zu planen und letztendlich unter großen Zeitdruck zu schreiben, ist zum einen eine große Herausforderung an die ‚schreiberische‘ Selbstdisziplin. Ich habe gelernt, dass das Produzieren von Wörtern nicht immer den Kuss einer Muse benötigt, sondern etwas ganz Alltägliches sein kann, was zu jeder Zeit in den Tagesablauf integriert werden kann. Diese Erkenntnis nutze ich auch für meine Arbeit als Texterin.
Zum anderen zeigt sich Kreativität hierbei in seiner Reinform, wenn der Moment gekommen ist, in dem Figuren aus der Aneinanderreihung von Buchstaben plötzlich ein Eigenleben entwickeln und Dinge fast wie von selbst tun. So passiert es, dass die Person, die du am Anfang des Romans als den Bösewicht des Plots bestimmt hast, sich plötzlcih ganz anders entwickelt oder einfach verschwindet, weil du gemerkt hast, dass sie es shclicht und ergreifend doch nicht ist.
Unter dem Pseudonym Daphne Delacroix habe ich meinen ersten NaNoWriMo-Roman über www.nanowrimo.org geschrieben und in 27 Tagen die geforderten 50.000 Wörter sogar überschritten, um meine Thriller-/Lovestory zu beenden. Von derer Unperfektheit ich übrigens mehr als überzeugt bin. Denn mal ehrlich: Welcher Bestseller-Autor schreibt einen Roman in so kurzer Zeit, bei dem es nicht plötzlich Abend und dann Morgen ist? In dem nicht der Bösewicht auf einmal vom Erdboden verschluckt ist? In dem nicht ein kleines bisschen Persönlichkeit verarbeitet wird? Wohl niemand! Aber darum geht es bei einem solchen Extrem-Schreibprojekt auch gar nicht. Es geht vielmehr um die Erfahrung dessen, was es heißt mit Schreib- und Denkdruck umzugehen und sich selbst und seine Schreibgewohnheiten näher kennenzulernen. Ein Stück meiner Persönlichkeit wird in meinem Text für immer verhaftet bleiben.
Einen Teil meines Novemberromans zeige ich Ihnen auf dieser Seite:
Schon seit einer Viertelstunde stand er hier auf dem Flur herum und wartete auf sie. Er kam sich vor wie früher zu seinen Studienzeiten, in denen er auf diverse Scheine oder Formulare hatte warten müssen. Er erinnerte sich noch an die Schlange vor einem Dozentenbüro, um sich für Kriminologie II einzutragen. Hier hatte sich wohl nicht allzu viel verändert, seit er vor 6 Jahren seinen Abschluss gemacht hatte. Der Flur war ungemütlich und er hatte darauf verzichtet sich auf einen der wacklig aussehenden Stühle zu setzen, weil er befürchtete, sie würden unter seinen knapp einhundert Kilo zusammenbrechen. An der Raufasertapete, die wahrscheinlich so alt war wie er, hingen vereinzelt Plakate von Literaturwissenschaftlichen Tagungen, die seit mehreren Jahren der Vergangenheit angehörten. Wahrscheinlich hatte sie sie hängen lassen, damit der Raum nicht komplett kahl blieb. Als er Absätze auf dem Linoleumboden hörte, hielt er einen Moment den Atem an. Falscher Alarm. Eine neugierig dreinblickende Frau in Aladdin-Hosen schlich plötzlich viel stiller in ihr Büro. Carries Tür lag ganz am Ende des langen Flurs. Er hatte eine Weile suchen müssen, bevor er sie entdeckt hatte. David war nervös, viel mehr als er sich eingestehen wollte. Nicht zu fassen, dass ihr Name auf einer Liste ihn so albern werden ließ, Herzklopfen zu bekommen. Gut, er hatte mehr von ihr gesehen als beabsichtigt und er konnte nicht leugnen, dass er es nochmal sehen wollte, aber das ist kein Grund hier gleich die Pferde scheu zu machen, Lieutenant Sanders. Denk dran, wozu du hier bist, ganz bestimmt nicht, um eine Frau anzuhimmeln, die du bis gestern ewig nicht gesehen hast. George und ihm lagen die Ergebnisse der Untersuchung von gestern Abend noch nicht vor, aber der Ohrring, den sie gefunden hatten, gehörte mit Bestimmtheit nicht dem Opfer. Es war zum aus der Haut fahren. Den ganzen Tag hatten sie versucht, das Mädchen zu identifizieren, hatten die Fingerabdrücke abgeglichen, aber nichts war passiert. Sie war nie kriminell gewesen, noch nie als Zeugin geladen worden oder irgendwas, dass sie in ihre Datenbanken befördert hätte. George suchte jetzt nach dem Tattoo, während er hier rumsaß und Carrie den angekündigten Anstandsbesuch abstatten musste. Er hatte es nicht über Herz gebracht, den Fall nach hinten zu schieben, aber George war hart geblieben.
„Wir haben jetzt erst mal wichtigeres zu tun, David. So sehr du sie auch magst und ihren Jonathan-Freund hasst, es ist jetzt nicht zu ändern. Mord geht immer vor allem anderen, selbst wenn du beweisen könntest, was du zu dem Unfall der Eltern denkst.“
Er hatte ihn noch genau im Ohr. Was war nur los mit ihm, verdammt? Er musste sich dringend zusammenreißen. Das Klingeln seines Handys ließ ihn hochfahren. Scheiße, hier waren überall Büros. Er ging hastig in den Treppenaufgang zurück, um in Ruhe reden zu können. Im Moment waren nicht viele Studenten unterwegs, die Vorlesungen liefen. Georges Nummer erschien auf dem Display. Was wollte er denn jetzt schon wieder, David war gerade mal eine dreiviertel Stunde weg und er hatte schon wieder Redebedarf? Manchmal war er schlimmer als eine eifersüchtige Ehefrau.
„Was jetzt?“
Er reagierte genervter als beabsichtigt und schob es seiner Nervosität in die Schuhe.
„Bist du schon da?“
George klang ernst.
„Wieso?“
„Du solltest mal abchecken, ob deine Frau Doktor einen Ohrring vermisst.“
Das Blut gefror ihm augenblicklich in den Adern. Er schnappte nach Luft und versuchte nicht aufgeregt zu klingen.
„Verarsch mich nicht.“
„Es ist ein Fingerabdruck drauf gewesen. Er gehört ihr.“
„Sie hat ein Alibi.“
Er knurrte fast, aber immerhin wusste er ziemlich genau, wo Carrie in den letzten Stunden bevor das Leben des Mädchens beendet worden war, gewesen war. Und das war nicht auf einer Parkbank in der Nähe der Studentenwohnheime. Er starrte auf die verchromten Aufzugtüren und las die Anzeigetafel, um wieder runter zu kommen.
„Beruhig dich mal, mir gefällt das auch nicht. Aber wir müssen sicher wissen, ob es ihrer ist. Wenn ja, werden wir sie in nächster Zeit öfter sehen.“
„George, ich hab sie den ganzen Abend gesehen, bin dem Taxi hinterhergefahren und war nachts vor ihrer Tür. Da ist nichts.“
„David.“ Er hasste es, wenn George ihn nachäffte. „Ich weiß, dass du sie den ganzen Abend verfolgt hast, aber ich weiß auch, dass verdammt noch mal ihr Scheißfingerabdruck auf dem Ohrring ist. Also reiß dich gefälligst zusammen und mach deinen Job!“
„Heißt das, dass ich jetzt alleine eine Verdächtige verhöre?“ Seine Gedanken kreisten, er hatte Carrie nur für drei Stunden aus den Augen verloren, als er Price hinterhergejagt und ins Bett gegangen war. Aber die Leichenstarre war eingetreten und der Pathologe hatte den Todeszeitpunkt auf die Zeit zwischen Mitternacht und eins geschätzt. Allerdings nur mit der Vermutung, dass sich der Leichnam vorher in einem warmen Raum befunden haben musste, weil er sonst nie so auf der Bank hätte sitzen können. Wenn er Recht hatte, war Carrie hundertprozentig aus dem Schneider. Zum Glück hatte er George erzählt, wo er gewesen war, bevor sie über den Ohrring gesprochen hatten.
„Nein, David. Das heißt, dass du rausfindest, ob der Ohrring ihr gehört und wie er an den Tatort gekommen ist. Sie kann allerhöchstens eine Mittäterin sein, aber ich halte es für unwahrscheinlich.“ David hoffte, dass man den Felsbrocken, der gerade von seiner Seele abfiel nicht durch die Leitung hören konnte.
„Gut.“
„Sei trotzdem nicht zu weich, hörst du?“
„Ja, Mom.“ David legte auf und stellte sich vor, wie sein Partner jetzt beleidigt auf sein Telefon starrte, während er ihm innerlich den Kopf abriss. Er dreht sich wieder von den Aufzügen weg und kehrte an seinen alten Platz zurück. Auf halbem Weg kam ihm ein rothaariger Mann entgegen, der ihn durch die eckigen Brillengläser ansah, als fragte er sich, was er hier zu suchen hatte. Verwundern tat es ihn nicht, er wusste genau, dass er aussah als wäre er gerade aus dem Knast gekommen. Er hatte immer noch tiefe Augenringe. Die Nacht war einfach zu kurz gewesen und der Tag wurde und wurde nicht besser. David nickte ihm zu, was ihn zu beruhigen schien und stiefelte wieder ans andere Ende des Flurs, wo er sich gegen die Mauer lehnte. Es wurde langsam wieder belebter im Gebäude. Türen öffneten und schlossen sich, Dozenten, Hilfskräfte und Studierende machten ihre Wege über den schmalen Gang, ließen einander durch, wechselten kurz ein paar Worte und schlichen weiter. Alles hier war fast unangenehm still, weil offenbar keiner den anderen bei der Arbeit stören wollte und wenn die schmalen Fenster über den Türen nicht wären, hätte David daran gezweifelt, dass hier heute Morgen überhaupt jemand arbeitete. Helle Streifen aus Neonlicht verrieten ihm, welche Büros gerade besetzt waren und welche nicht. Aus Carries Fenster floss ein wenig Tageslicht. Wieder Absätze auf dem Gang. Dreh dich einfach ganz langsam um, damit du nicht auffällst. Er hatte richtig vermutet, sie kam aus ihrer Veranstaltung zurück, trug einen Stapel Papier, den sie sich mit beiden Armen an den Oberkörper drückte, und eine Tasse, auf der ein gezeichnetes Huhn ziemlich verdutzt schaute. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, als sie über den Flur ging, ähnelte so gar nicht ihrer Tasse. Sie lächelte zwar, trotzdem konnte er noch etwas anderes darin erkennen.
„Hallo Lieutenant. Ich hatte später mit dir gerechnet.“
Sie sprach genau so leise wie alle anderen, die in der letzten Viertelstunde über den Gang spaziert waren. Offenbar Volkskrankheit.
„Ich hoffe, ich störe dich nicht, Carrie.“
„Nein, schon gut. Ich komme nur aus einem Seminar und bin ein bisschen leergeredet. Aber nach eine Tasse Tee geht es sicher gleich wieder.“ Sie zückte einen Schlüsselbund mit einem kleinen Anhänger, der aussah wie eine Gitarre, und schob sich an ihm vorbei zu ihrer Bürotür. Als sie sie aufgestoßen hatte, atmete sie leise aber tief durch, so als wollte sie nicht, dass er es hörte.
„Möchtest du Kaffee?“
„Gern.“ Er hörte sich etwas sagen, was entgegen aller Logik ging, aber da war es schon zu spät gewesen. Gern? Hallo? Du sollst sie befragen und dann wieder gehen, so schwierig kann es ja wohl nicht sein, den inneren Felsblock anzuschalten, das gruselige Gesicht zu nutzen, damit sie etwas mehr Angst vor ihm bekam, vergeblich.
„Geh doch schon rein, ich komme sofort nach.“ Sie verschwand mit ihrer Tasse in einem der Nebenzimmer und schaltete das Licht dort an. Wieder ein Neonspalt mehr, der beleuchtet war. David ging durch die dunkle abgewetzte Holztür in ihr Büro und blieb mitten im Raum stehen, um sich umzusehen. Der Raum, in dem sie arbeitete, war vielleicht zehn Quadratmeter groß, trotzdem hatten es die beiden Fensterfronten geschafft, ihn größer aussehen zu lassen als er war. David brauchte noch nicht einmal das Licht anzuschalten, so hell war es hier drin. Ihr Schreibtisch gehörte zum Inventar der Universität, denn die Platte passte exakt zu den grauen Flecken, Verzeihung dem Muster, auf dem roten Linoleumboden, der auf der gesamten Etage ausgelegt worden war. Sie hatte einen ähnlichen Chefsessel wie er in seinem eigenen Büro zu finden war und der Tisch war übersäht mit Papier einem Laptop und bunt leuchtenden Post-Ist an jeder nur möglichen Ecke der Zettel. Sie hatte offensichtlich schon Zeit hier verbracht, aber den Tischkalender noch nicht umgeschlagen, er stand noch auf dem Datum von gestern. Ihm fiel auf, dass nichts eingetragen war, obwohl sie einen ziemlich aufwändigen Termin gehabt hatte, und er fragte sich augenblicklich, wozu sie diesen Kalender brauchte, wenn sie nicht darin eintrug. Stirnrunzelnd trat er an die Fensterecke und blickte hinaus in den trüben Tag. Es war erst kurz nach zwölf, aber den Nebel war schon aufgezogen, als er hergefahren war. Er lehnte sich gegen das riesige Bücherregal, das als einziges nicht in diesen Raum passte, aber mehr zu Carrie gehörte als alles andere. Seine Schulter berührte das fein gemaserte Holz und er konnte es nicht lassen über die Seite zu streichen und die Maserungen einzeln zu fühlen. Es erinnerte ihn irgendwie an das Regal, das im Wohnzimmer seiner Eltern stand. Er befand sich auf der vierten Etage und blickte durch das Fenster hinab in die Tiefe, wo sich die Studenten tummelten wie ein Ameisenvolk, dass gerade nicht mehr wusste, wo es hinsollte. Als er merkte, dass er die Stelle kannte, auf die er hinuntersah lächelte er. Das hier war ein Wahnsinnsplatz. Der Geruch von frischem Kaffee ließ ihn herumfahren. Carrie lehnte mit zwei Tassen im Türrahmen und lächelte ihn an.
„Ich hätte wohl was sagen sollen, aber ich dachte, ich lasse dich noch ein bisschen in Erinnerungen schwelgen.“
Er grinste, obwohl er es eigentlich nicht wollte.
„Hat aber ein bisschen gedauert bis ich es wiedererkannt habe.“
„Mir ist es auch erst aufgefallen, als ich schon zwei Wochen hier war. Man wird, glaube ich, betriebsblind.“
Sie reichte ihm seine Tasse und nahm selbst einen Schluck Tee. Er kannte den süßlichen Geruch nach Zitrone noch aus ihren Probenzeiten, hatte aber nicht gewusst, dass er ihn sich so gut eingeprägt hatte. Der Kaffee war schwarz und köstlich, nach seiner kurzen Nacht hatte er schon etwa vier davon intus gehabt, trotzdem war dieser hier unschlagbar. Sie stellte sich direkt neben ihn, so nah, dass er die Wärme spüren konnte, die von ihrem Körper ausging. Seltsam. Allen Frauen, denen er bisher begegnet war, froren ständig und hatten eiskalte Arme. Ihre wirkten eher wie eine eigene Heizung, die gerade aufgedreht worden war. Vielleicht war es aber einfach nur der Tee.
„Du stehst gerade an meinem Lieblingsplatz.“
„Kann ich gut nachvollziehen, die Aussicht ist klasse.“
„Hm. Du solltest sie mal an einem weniger trüben Tag sehen. Dann ist es wirklich beeindruckend schön. Da wo jetzt der Nebel ist, kann man einen riesigen Wald sehen und nur ab und zu mal ein oder zwei Häuser.“
Carrie schloss die Augen als sie einen weiteren Schluck Tee trank und ließ ihm genug Zeit, um sie eingehen zu betrachten. Ihre Haut war hell, fast schon blass, aber der Mund war rot und voll. Ihm fiel ein, dass sie ihn früher immer an eine etwas schrägere Version von einem Schneewittchen erinnert hatte. Vor allem als ihre Haare noch lang gewesen waren. Sie hatte süß ausgesehen als sie sich morgens die Haare geflochten oder hochgesteckt hatte. Jetzt, wo das Niedlichste an ihr nicht mehr da war, konzentrierte er sich auf etwas anderes, was ihn augenblicklich an gestern Nacht erinnerte. Also den Zeitpunkt vor dem Mord. David, was tust du hier eigentlich? Mord war sein Stichwort und er setzte sich in den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüber stand. Sie schlug die Augen auf und begriff sofort. Carrie stellte ihre Tasse auf dem Schreibtisch ab und ließ sich in ihren Stuhl sinken. David zog seinen Notizblock aus der Tasche und legte ihn auf der glatten Tischplatte ab. Na dann wollen wir mal. Er versuchte so ernst zu schauen, wie er nur konnte, hatte aber das Gefühl, sie ziemlich dämlich anzugucken und ließ es einfach bleiben.
„Weswegen bist du hier, Lieutenant?“
„Eigentlich befrage ich eine Angehörige der Familie Rosen zum Unfall ihrer Eltern, aber leider ist etwas sehr Unangenehmes dazwischen gerutscht.“
„Was soll das bitte heißen?“
Ihre Augen hatten aufgehört ihn anzustrahlen. Er musste es endgültig zerstören, es half alles nichts.
„Die Ermittlungen zum Unfall müssen verschoben werden, weil heute Nacht ein Mädchen ermordet worden ist.“ Er hielt einen Augenblick inne, um die Reaktion abzuwarten, aber sie rührte sich nicht. Zu seiner Überraschung wurde sie nicht mal blass oder so was in der Art. Sie starrte ihn einfach nur unverwandt an.
„Wie schrecklich.“
Ihre Stimme klang besorgt.
„Entschuldige, dass ich nicht schockierter bin oder so. Du weißt sicher, dass ich den Unfall nicht für einen halte, wenn du die Akten gelesen hast. Aber der letzte Polizist, der mich dazu befragt hat, hat sich insgeheim wohl nur gedacht, dass ich spinne.“ Er hatte sie noch nie so kalt erlebt. Er kannte Carrie dafür, dass sie eine Frohnatur war, aber dieser Tonfall war ihm völlig fremd. Er nahm sich vor später noch einmal nachzusehen, mit wem sie gesprochen hatte, aber jetzt konnte er nichts für sie tun, außer ihr etwas zu sagen, was er eigentlich nicht sagen sollte.
„Tut mir Leid, dass du dich so gefühlt hast. Falls es dich beruhigt, ich glaube auch nicht daran, dass deine Eltern ganz zufällig in die Sache verwickelt wurden.“
Zu spät. Er konnte sehen, dass er einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen ausgelöst hatte, bereute es aber nicht. Schließlich sagte er die Wahrheit. Trotzdem war es niemals klug, sich so früh auf eine Seite zu stellen, die er noch nicht mal kannte. Es war zum Kotzen, er vertraute ihr einfach, obwohl er sie Jahre nicht gesprochen hatte. Was wenn sie ein komplett anderer Mensch geworden war?
„Deswegen bin ich aber leider nicht hier.“
Sie wurde sofort misstrauisch.
„Weswegen dann?“
„Carrie, ich muss dich etwas fragen.“
„Nur zu.“
„Ist das hier einer deiner Ohrringe?“
Er zog ein hochaufgelöstes Foto heraus, auf dem es fast so aussah als würde der Stein, der in das Platin eingefasst war, ihnen entgegenstrahlen. David konnte nicht anders. Er las in ihrem Gesicht und kannte die Antwort bevor sie über die blasser werdenden Lippen kam. Sie war schließlich so klug, dass sie sich in etwa denken konnte, wieso der das fragte.
„Der gehört mir tatsächlich.“
„Bitte überleg jetzt ganz genau, wann du ihn das letzte Mal getragen hast und ob du mit Sicherheit weißt, wo der zweite davon ist.“
„Er war an einem Tatort, richtig?“
„Beantworte die Frage.“
Sie bekam knallrote Flecken im Gesicht. Es tat ihm weh, ihr so zuzusetzen, obwohl er wusste, dass sie ein Alibi hatte, aber es musste sein. Er musste einfach wissen, ob er ihr vertrauen oder sie verdächtigen sollte. Sei nicht zu weich, toller Rat, George. Wenn er seinetwegen seine Chancen bei ihr vermasseln musste, würde David ihn umbringen. Carrie sah aus, als würde sie ihn gleich über den Tisch anfallen wollen wie ein wütender Terrier und er wünschte sich auf einmal einen größeren Sicherheitsabstand zwischen ihnen beiden als die Platte ihre Schreibtischs.
„Glaubst du allen Ernstes, dass ich gestern Nacht nach der Gala noch ein Mädchen umgebracht habe? Sag mal hast du sie noch alle?“
Das war‘s. Endgültig.
„David, wir kennen uns jetzt schon seit Ewigkeiten.“
Sie nahm sich eine kleine Atempause und David konzentrierte sich nur darauf, ihr direkt in die schönen Augen zu sehen und so ernst zu gucken, wie es ging. Sei ein einziges Mal der böse Cop, komm schon.
„Die Frage, Carrie.“
Sie murmelte irgendwas in sich hinein, was sich für ihn wie ein ‚Ist ja schon gut‘ anhörte. Endlich, sie hatte verstanden.
„Hmm.“
Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück.
„Ich habe sie das letzte Mal am Donnerstag getragen. Das war hier in der Unibibliothek, weil ich noch ein paar Sachen kopieren musste.“
Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, während sie nachdachte. Er musste sich beherrschen nicht zu lachen, da war es wieder, sie war einfach zu süß, um wahr zu sein. Er hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass sie mit dem Mordfall nichts zu tun hatte und als er sie so sah, wusste er wieder genau, warum das so war.
„Danach nicht mehr. Also Donnerstag. Und bevor du das auch noch mal fragst, ich habe keinen Schimmer, wo der andere ist. Ich vermute, er liegt in meinem Badezimmer, aber da dachte ich ja auch noch, dass der da an derselben Stelle liegt.“
Carrie wies mit dem Finger auf das Foto und seufzte.
„Gut.“
David schrieb es auf und steckte den Notizblock wieder weg.
„Wie gut?“
„Carrie, ich glaube nicht, dass du irgendjemanden umgebracht hast.“
„Was fällt dir dann ein, mich so zu erschrecken, du Vollidiot!“
„Ich mache hier meinen Job.“
„Guter Cop, böser Cop, oder was?“
Die Flecken waren zu einer Fläche geworden, ihr Kopf knallrot. Oh, ja. Sie war tierisch sauer auf ihn. Er hatte das Gefühl, dass ihre Ohren gleich pfeifen würden, so sehr kochte sie.
„Dein Ohrring mit deinem Fingerabdruck drauf lag gestern Nacht an einem Tatort neben einer Leiche.“
„Das weiß ich jetzt auch, vielen Dank.“
So, Carrie, das reicht jetzt. Er hatte keine Lust sich von ihr dafür verantwortlich machen zu lassen, dass sie nicht besser auf ihre Sachen aufpasste. Was sollte dieses Zicken jetzt? Auf gar keinen Fall wollte er ihr das Ruder in dieser Diskussion überlassen, wenn sie gefälligst seine Fragen beantworten sollte.
„Halt mal die Luft an. Ich versuche dir zu helfen. Wenn ich nicht dein Alibi wäre, würdest du vermutlich schon auf dem Revier sitzen.“
„Bitte?“
Bleib ruhig, David.
„Ich habe gesagt…“
„Ich weiß, was du gesagt hast.“
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Was zur Hölle, David. Was zur Hölle macht dich zu meinem Alibi?“
„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich gestern rein zufällig auf dieser Anwaltsgala aufgetaucht bin.“
„Und du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich so blöd bin, zu denken, dass mein Alibi endet, nachdem ich in das Taxi gestiegen war.“
Darauf wusste er nun wirklich nichts mehr zu sagen.
„Ich bin als Cop hier, Carrie. Nicht als irgendwas anderes.“
„Gut. Hast du noch irgendwelche Fragen an mich?“
„Nein. Ich informiere dich darüber, dass ich den zweiten Ohrring suchen und nachsehen werde, ob jemand in deiner Wohnung war oder nicht.“
„Gut.“
„Tu dir selbst einen Gefallen und bleib in der Stadt bis das geklärt ist.“
„Gut.“
„Wenn du noch einmal gut sagst, sehe ich mich leider gezwungen, dir den Hals umzudrehen.“
Er stand auf und leerte die Kaffeetasse in einem Zug.
„Gut.“
Er starrte sie an, sie war auch aufgestanden und stellte sich ihm direkt gegenüber. Sie lächelte ihm bitterböse zu und musste den Kopf in den Nacken legen, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, so nah war sie ihm.
„Also Lieutenant, ich warte.“
Und da war es auch schon passiert. Später hätte David nicht mehr sagen können, wer von ihnen damit angefangen hatte. Allerdings wusste er noch ziemlich genau, wer aufhörte. Sie mussten minutenlang dagestanden haben, er hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte, aber sie löste sich von ihm in dem Moment, in dem er den Kuss fast auf ihren Schreibtisch verlagert hätte. Sie schnappte nach Luft und hatte die Augen weit aufgerissen.
„Was tun wir hier?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Du bist als Cop hier und als nichts anderes.“
Sie klang nicht unbedingt überzeugender als er vorhin, aber er beließ es dabei. Was war nur in ihn gefahren? Wenn er das hier vergeigte, konnte er die Ermittlungen wegen des Unfalls an einen unerfahrenen Kollegen abgeben, der nie auf die Idee kommen würde, ihn endlich aufzuklären. Er musste auf so ein Feuerwerk verzichten, wenn er ihr helfen wollte. Schluss damit, sie ist noch nicht mal frei und du tust so, als würde sie einen Stempel mit deinem Namen drauf auf der Stirn tragen.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe.“
„Ja, ich denke auch. Tu das.“
Sie sank auf die Tischkante und stützte sich mit beiden Armen ab. David drehte sich zur Tür und sein Blick fiel auf ein gerahmtes Bild im Regal neben der Tür, dass er selbst in seinem Büro stehen hatte. Er zog die Tür hinter sich zu und stieß fast mit dem rothaarigen Typen von vorhin zusammen.
„Tut mir Leid. Ich habe nicht richtig aufgepasst.“
Der Rothaarige starrte ihn an.
„Nichts passiert.“
Als er wieder ins Auto stieg, rief er George an, um ihm zu berichten, was er wusste, den Kuss ließ er aus.